Ⅰ
Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei. Wenn es nach Emily ginge, dann hätte es ruhig noch zwei Tage länger sein können, aber das funktionierte natürlich nicht. Nicht in dieser Welt.
Sobald sie am Montagmorgen aufstand, fühlte sie die Last der noch gar nicht wirklich begonnenen neuen Woche auf ihren hübschen schmalen Schultern und wollte sich gleich wieder in ihr Prinzessinnenbettchen fallen lassen. Vielleicht sollte sie einfach liegen bleiben und ihre Mutter dreist belügen? Sie hatte sich eine Erkältung geholt, als sie mit den anderen letzten Abend noch nach Hause gegangen ist, konnte sie ja erzählen. Ob das realistisch war? Sie hatten nur zehn Minuten von Jays Haus bis hierher gebraucht. Da konnte man sich unmöglich eine Erkältung holen, vor allem weil es ja nicht einmal wirklich kalt war. Aber bei dem Gedanken an Jay und seine schönen roten Locken begann ihr Herz erneut zu flattern, genauso wie am gestrigen Abend, als er sich dazu bereit erklärt hatte, sie nach Hause zu begleiten, damit sie nicht alleine gehen musste. Die anderen waren zwar auch gefolgt, aber sie gingen hinter ihnen, wahrscheinlich sogar aus einer hinterhältigen Absicht heraus. Dennoch musste sie ihnen ausnahmsweise dankbar dafür sein, wie listig sie sich manchmal verhielten. Lyra sagte, dass Jay hundertprozentig auf sie stehen musste, so wie er sie anschaute. Und das machte sie unglaublich glücklich, denn er war eindeutig der niedlichste Junge in der ganzen Klasse. Beinahe jedes Mädchen flog auf ihn, und dass er sich ausgerechnet in sie verliebt hatte, pushte ihr Ego etwas. Was nicht bedeutete, dass es nicht sowieso schon unglaublich groß war.
Emily wusste ganz genau, wie gut sie aussah und dass sie der Schwarm vieler Jungs war. Sie, mit ihren blassblonden Locken, die ihr bis zur Hüfte gingen, immer glänzten und jeden Tag nach einer anderen Blume rochen. Sie hatte außerdem eine schlanke Taille und eine beachtliche Oberweite, was ihr wohl in den Genen liegen musste. Genauso wie ihr symmetrisches Gesicht mit den großen braunen Augen, die von einem schwarzen Wimpernkranz umrandet wurden.
Als ihr Blick gerade seinen Weg zu ihrer Schultasche fand, fiel ihr auf einmal auf, dass ihre Klassenlehrerin angekündigt hatte, dass sie eine neue Schülerin bekommen würden, was sie sofort hellwach machte. Augenblicklich saß sie senkrecht im Bett. Neue Schülerin bedeutete neue Gefahr.
Mit dem Gedanken sprang sie aus dem Bett und riss sogleich die Schranktür auf, um sich etwas passendes zum Anziehen herauszusuchen. Es musste etwas sein, was ihre Schönheit unterstrich, damit sie auch all die Aufmerksamkeit bekam.
Nachdem sie sich eine Stunde lang in Schale geschmissen hatte, lief sie die Treppe hinunter in die Küche, um sich schnell ein Stück Toast in den Mund zu stecken und im nächsten Moment aus der Haustür zu stürmen. Sie durfte um keinen Preis zu spät kommen, am besten sollte sie sogar zu früh da sein. Sie war auch schon längst weg, bevor ihre Mutter ihr noch irgendwas hinterherrufen konnte. Sie hetzte aus der Tür durch den farbenfrohen Garten voll duftender Blumen über die Straße und fummelte ihr Handy aus der Hosentasche ihrer kurzen Hose, um die Uhrzeit zu überprüfen. Sie hatte noch genug Zeit. Im Durchschnitt brauchte sie fünf Minuten bis zur Schule, und der Unterricht würde erst in fünfzehn beginnen. Also hatte sie genug Puffer. Dennoch wollte sie das Gefühl nicht verlassen, dass sie sich beeilen sollte. Demnach raste sie ungewöhnlich hastig über die Straßen und ignorierte jegliche Leute, die sie möglicherweise kannte und sie begrüßen wollten.
Sie erreichte das klotzige graue Schulgebäude noch früh genug, um nicht in die Menge schwitzender Schüler zu gelangen, die sich wie jeden Morgen alle gleichzeitig durch die engen Türen quetschten. Zum Glück wurde ihr Klassenraum von ganz oben nach ganz unten versetzt, da sie dort die Fenster erneuerten, daher musste sie auch keine gefühlt einhundert Stufen nach oben latschen und war nach kurzer Zeit schon im Raum. Alles andere hätte sie außerdem auch außer Puste gebracht, und möglicherweise Schweißflecken auf ihren Klamotten hinterlassen.
Im Klassenraum saßen bisher noch nicht viele Schüler, nur ein paar wenige, die verschlafen auf ihren Plätzen saßen und wenig motiviert aussahen. Emily ließ sich auf ihren Platz fallen und holte erneut ihr Handy heraus, um Lyra zu schreiben und sie zu fragen, wo sie denn bliebe. Seltsamerweise erhielt sie schon sehr früh eine Nachricht, die die Worte "Bin krank, viel Glück" beinhielten. Genervt stöhnend legte sie ihr Handy auf den Tisch und rutschte etwas auf dem alten und vollgekritzelten Stuhl hinunter. Das hatte ihr jetzt noch gefehlt. Ihre beste Freundin, die nicht zur Schule kam. Zwar hatte sie noch andere Freunde in der Klasse, aber mit niemandem verstand sie sich so gut wie mit Lyra. Sie konnten sich verständigen, ohne Worte benutzen zu müssen. Und ehrlich gesagt hatte sie Angst davor, Jay und vor allem der neuen Schülerin ohne sie gegenüberzutreten. Es gab einen großen Unterschied von Selbstbewusstsein im Beisein von Freunden und Selbstbewusstsein ohne Freunde. Der Tag war definitiv gelaufen, ohne dass er überhaupt richtig begonnen hatte.
Man konnte ihr deutlich ansehen, wie tief ihre Laune gesunken sein musste, denn sie starrte lustlos aus dem Fenster. Sie bemerkte auch nicht, wie sich der Raum weiter füllte und die ganzen restlichen Schüler sich unmotiviert auf ihre Stühle plumpsen ließen. Auch Jay betrat den Raum, aber sie beachtete ihn nicht, weil sie zu beschäftigt war. Um genau zu sein war sie mit den Gedanken bei völlig anderen Dingen, so wie sie gerne abzuschweifen drohte.
Erst als ihre Lehrerin den Raum betrat und ein lautes "Aufstehen!" von sich gab, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch und stand instinktiv auf, genauso wie der Rest der Klasse. Das mussten sie jeden Morgen machen, damit sie besser sehen konnte, wer fehlte und wer da war.
Nach ein paar Sekunden setzten sich alle wieder und erst dann fiel ihr auf, dass jemand im Türrahmen stand und desinteressiert an die gegenüberliegende Wand starrte. Man hatte sie anfangs nicht bemerkt, da sie nicht hereingekommen war, so wie normale neue Schüler es tun würden. Emily konnte sie aber von ihrem Platz aus gut erkennen und musterte sie sofort. Sie sah definitiv nicht so aus, wie sie es erwartet hatte. Sie hatte sich ein niedliches Mädchen mit rundlichem Gesicht und kleiner Stupsnase mit Sommersprossen vorgestellt, das von kastanienbraunen Locken umrandet wird, was in ihrer Vorstellung natürlich noch von Harfenmusik und göttlichem Glanz begleitet wurde. Halleluja.
Aber das Mädchen, was sie nun dort stehen sah, erinnerte kein bisschen an die engelsgleiche Vorstellung. Eher an das komplette Gegenteil. Sie trug komplett schwarze Klamotten, die beinahe schon an ihrem dürren Körper klebten. Jedoch zeigte sie kein bisschen Haut und sah so aus, als würde sie aus einer Art Winterlandschaft kommen, dabei war doch Sommer. Sie trug sogar schwarze Stiefel mit Nieten, die wohl eigentlich für kaltes Wetter gedacht waren. Ihr Gesicht war eingefallen und so schlank, dass man ihre Wangenknochen ganz deutlich erkennen konnte. Dazu hatte sie dunkle Schatten unter den Augen und ihre Nase sah so spitz aus, dass Emily sofort an die Spindel aus dem Märchen Dornröschen denken musste. Sie selbst sah ja sogar schon ein wenig aus wie eine Hexe. Die fettigen Haare auf ihrem Kopf waren kaum von ihren dunklen Klamotten zu unterscheiden und gingen ihr bis zu den Schultern. So weit Emily es erkennen konnte, besaß sie auf einer Seite einen extrem kurzen Sidecut, aber der Rest ihrer Haare waren unordentlich geschnitten und auch nicht gekämmt. Man konnte beinahe meinen, sie würde sie nie kämmen oder sich anderweitig um sie kümmern, geschweige denn überhaupt waschen. Schnell zog sie eine Verbindung von dem Mädchen zu der bekannten Charakterdarstellung Tim Burtons, sie sah ja beinahe so aus, als wäre sie einem seiner Filme entsprungen.
Spätestens jetzt hätte sie das Interesse verlieren müssen, da sie ja wohl keine Konkurrenz darstellte, aber sie ertappte sich dabei, wie sie das fremde Mädchen noch immer anstarrte und genau musterte. Das Problem dabei war, dass sie im Schatten der Tür stand und man daher nicht sonderlich viel erkennen konnte. Jedoch war sie relativ groß, wahrscheinlich beinahe 1.80 Meter, wovon Emily nur träumen konnte. Aber so wie sie aussah, konnte und wollte sie sowieso niemals eine Modelkarriere beginnen. Jedoch blickte sie niemanden aus der Klasse an, sie starrte nur gegen die Wand, als wollte sie im nächsten Moment entweder wieder heraus sprinten, oder aber gleich aus dem Fenster springen. Emily kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, ohne es richtig zu realisieren, und fuhr sich mit der rechten Hand durch die weichen blonden Haare. Sie zwang sich, den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Dabei sollte sie doch jetzt eigentlich vollkommen glücklich sein und das Interesse verlieren.
»Kommst du bitte herein?« meinte die Lehrerin höflich mit dem Blick zu der neuen Schülerin gewandt, die noch immer im Türrahmen stand und nicht wirklich danach aussah, als wolle sie der Bitte nachkommen. Nach einigem Zögern betrat sie ihn dann doch und stakste neben die Lehrerin an das Pult, um danach niemanden anzusehen und einfach nur in die Leere zu starren, als würde sie das alles komplett kalt lassen und sie nicht im geringsten interessieren. Was Emily verwunderte, schließlich musste man doch irgendwie nervös sein, wenn man in eine Klasse voller Fremder kam. Eine Zeit lang schwiegen alle, darauf wartend, dass sie etwas sagte und sich vorstellte, aber nichts geschah. Sie starrte nur weiterhin in die Leere, aber für einen sehr kurzen Moment traf sich ihr Blick mit dem von Emily und sie konnte ihre wie Smaragde leuchtenden Augen blitzen sehen. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, um dann im nächsten Moment in doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Irgendwie faszinierte sie das. Sie wusste nicht, wie dieses Mädchen das anstellte, aber aus irgendeinem Grund konnte sie ihre Augen nicht von ihrer Gestalt abwenden. Vielleicht waren es ihre leuchtend wirkenden Sehorgane, vielleicht aber auch ihr interessantes Äußeres, was man tatsächlich nicht alle Tage sah. Normalerweise würde Emily Mädchen wie sie als hässlich bezeichnen, aber das war sie irgendwie nicht. Doch, wenn sie genau darüber nachdachte schon, aber desto länger sie sie betrachtete desto attraktiver wurde sie. War sie vielleicht wirklich eine Hexe?
»Würdest du dich deinen neuen Klassenkameraden bitte vorstellen?« fragte die ältere Frau höflich, da auch sie endlich mit dem Unterricht beginnen wollte. Das Mädchen schwieg jedoch noch immer und sah sie nicht einmal an, sondern starrte nur aus dem Fenster, so als würde sie sich wirklich wünschen, einfach abzuhauen.
»Heath«, krächzte sie schließlich in der kühlsten Stimmlage, die Emily je gehört hatte, und es jagte ihr beinahe schon einen Schauer über den Rücken. War das nicht ein Jungenname? Oder hatte sie sich vertan? Ohne es zu wollen, wiederholte sie den Namen mehrere Male in ihrem Kopf in den verschiedensten Stimmlagen und kam anschließend zu dem Entschluss, dass er einen schönen Klang hatte und in der Tat ursprünglich ein Jungenname war, was sie dezent verwirrte.
Das Mädchen, welches sich als Heath vorgestellt hatte, starrte noch immer mit vollkommen stumpfen Augen aus dem Fenster. Als Emily ihrem Blick folgte, erkannte sie die Eiche, die draußen auf dem Schulhof stand, die wohl schon sehr alt sein musste. Momentan sah sie wirklich prachtvoll aus, aber auch im Winter wirkte sie sehr majestätisch. Entweder sie blickte sie nur an, weil sie nichts anderes zu tun hatte, oder aber sie bewies Geschmack.
Emily konnte erkennen, dass ihre Lehrerin noch etwas erwartete, wie einen Nachnamen oder ihr Alter, aber das mysteriöse Mädchen schwieg. Eigentlich müsste sie ihren Namen und das alles ja auch aus den Dokumenten kennen, aber wahrscheinlich sollte sie sich der Klasse noch einmal gebührend vorstellen. Das tat sie jedoch nicht. Die etwas ältere Frau gab es irgendwann auf und seufzte einmal tief.
»Gut, Heath, setz dich doch bitte hier vorne neben Hannah, wenn du nichts mehr zu sagen hast«, meinte sie mit einem schwachen Lächeln auf den dünnen Lippen und zeigte auf den leeren Platz neben dem dunkelhaarigen Mädchen. Emily konnte erkennen, wie Hannah sofort blass wurde und das Gesicht verzog. Ihre Mitschülerin war keine sonderlich gute Schauspielerin und zeigte natürlich sofort, wie wenig begeistert sie von dem Gedanken war, Heath als Sitznachbarin zu bekommen. Heath blickte mit steinernem Ausdruck zu ihr hinunter und wirkte vollkommen desinteressiert.
»Mach dir nicht ins Höschen, Glubschauge, ich freu mich auch nicht darüber«, meinte das schwarzhaarige Mädchen mit den grünen Augen und starrte Hannah beinahe komplett nieder. Danach stolzierte sie an ihr vorbei und schlängelte sich durch die Tische, während Hannah ihr entgeistert hinterhersah und der Rest der Klasse betreten schwieg. Nur Emily musste ein leises Auflachen unterdrücken. Es war höchste Zeit, dass man ihr mal derart auf den Fuß trat. Es stimmte schon, dass sie etwas hervorstehende Augäpfel besaß, aber das hatte ihr noch nie jemand so offen gesagt, weil niemand den Mut dazu besaß. Aber Emily konnte sie sowieso nicht ausstehen, so war ihr das ganz recht.
Sie genoss noch eine Weile Hannahs entgeisterten Blick, der sich so langsam in Wut umwandelte.
Ihr Kopf lief wahrscheinlich teils aus Scham und teils vor Wut rot an, jedoch sagte sie nichts, da ihr möglicherweise kein guter Konter einfiel und es jetzt sowieso schon zu spät war. Jedoch hatte Emily sich dabei so sehr auf ihre Mitschülerin konzentriert und sich an ihrem Entsetzen amüsiert, sodass sie erst realisierte, dass jemand vor ihr stand und offensichtlich etwas von ihr wollte, als diese Person ihre dürre Hand auf ihren Tisch schlug. Erst dann bemerkte sie, wie Heath sich ihrem Gesicht unmittelbar genähert hatte und sie direkt anstarrte, ohne auch nur den Ansatz eines Blinzelns zu zeigen. Von Nahem konnte sie erkennen, wie ihre Augen beinahe blitzten und sah, dass sie anscheinend fast komplett durchsichtige Sommersprossen besaß. Erneut setzte ihr Herz einen Schlag lang aus und sie wich nach hinten zurück, was ihren Stuhl beinahe dazu brachte, nach hinten zu kippen, hätte sie sich nicht rechtzeitig an dem zerkratzten Tisch festgehalten.
»Ich hab gesagt, ich muss vorbei, Prinzesschen«, wisperte Heath lauernd, bevor sie sich wieder aufrichtete und ihr weiterhin ohne Unterbrechen in die Augen starrte. Sie konnte auch die Blicke der anderen Schüler auf sich spüren, was sie normalerweise beglückwünschte. Diesmal fühlte es sich jedoch unangenehm an. Sie blickte hinunter und bemerkte, dass ihre Tasche vollkommen im Weg stand, woraufhin sich ihre Wangen zart röteten und sie die Tasche verlegen zur Seite schob. Sobald sie wieder zu Heath aufsah, würdigte diese sie schon keines Blickes mehr und stakste davon zu dem Platz, der ganz hinten lag und an den Schüler für gewöhnlich nur geschickt wurden, wenn sie den Unterricht störten und nervten. Deswegen stand er auch alleine da und es gab keinen Nebentisch. Niemand wollte dort hin, aber Heath setzte sich freiwillig auf den Platz. Emily traute sich nicht, noch einmal nach hinten zu blicken, einfach weil sie den Blick der Neuen auch schon so in ihrem Rücken spürte, auch wenn sie genauso gut wusste, dass das auch Einbildung sein konnte. Und als sie dann doch den Kopf nach hinten drehte, bemerkte sie, dass sie mit der Annahme vollkommen richtig lag. Sie sah sie nicht einmal ansatzweise an, stattdessen starrte sie nur ausdruckslos an die Tafel, so wie vorher auch, und machte nicht den Anschein, als würde sie großartig interessieren, was um sie herum geschah.
Emily wurde dazu gezwungen, wieder nach vorne zu sehen und sich auf die Schule zu konzentrieren, als sie das Räuspern ihrer Lehrerin vernehmen konnte.
»Dann haben wir ja jetzt alles geklärt. Ich wäre euch allen wirklich dankbar, wenn wir nun mit dem Unterricht, dem einzigen Grund für eure Anwesenheit hier, beginnen könnten.«
Ⅱ
Als die helle Glocke zur ersten Pause läutete, hatten sie schon alle Fenster in dem Raum aufgerissen, da die Hitze kaum auszuhalten war. Emily war es durchaus schwergefallen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, da sie andauernd das Gefühl hatte, ihr Hals würde austrocknen, wenn sie nicht sofort etwas trank. Außerdem hatte sie die ganze Zeit die ungute Vorahnung, dass sie nach Schweiß roch, was sie absolut nicht leiden konnte. Natürlich lenkte so etwas dermaßen ab, sodass es kaum eine Möglichkeit gab, der Evolutionstheorie von Darwin zu folgen, die vorne erklärt wurde. Aber das war leider auch nicht das Einzige, was ihre Gedanken verrückt spielen ließ. Ständig musste sie an das schwarzhaarige Mädchen in ihrem Rücken denken und sich vorstellen, wie sie immer wieder von hinten beobachtete, was ihr hauptsächlich Unbehagen bereitete. Genauso wie ihre unheimliche Erscheinung generell.
Sie atmete aber auf, als sie endlich in die Pause gehen konnte und vermisste Lyra von Minute zu Minute immer mehr. Ihre beste Freundin lag nun wahrscheinlich im Bett und konnte den ganzen Tag schlafen, während sie leiden musste. Tolle Freundin. Nachher musste sie ihr unbedingt alles vom heutigen Tag erzählen und sie komplett volltexten. Das hatte sie nun davon, dass sie sie alleine gelassen hatte.
Ehrlich gesagt traute sie sich aber auch nicht, ihre Brotbox aus der Tasche zu nehmen und etwas an dem Brötchen zu knabbern, welches sie sich am gestrigen Abend noch gemacht hatte. Stattdessen starrte sie auf die Uhr und beobachtete den Sekundenzeiger, wie er ganz langsam voranschritt. Sie wusste absolut nicht, was sie nun tun sollte, ohne wie ein kompletter Loser auszusehen.
Bis ein rothaariger Junge in ihr Sichtfeld trat und sich direkt vor ihr platzierte, sodass ihre Sicht auf die Uhr blockiert wurde. Zuerst wollte sie ihn anmotzen, was das denn sollte und dass er gefälligst jemand anderes Sicht blockieren sollte, aber kurz bevor sie ihren Mund öffnen konnte, bemerkte sie, dass es sich um Jay handelte. Um Himmels Willen, den hatte sie ja komplett vergessen.
»Hast mich ja gar nicht beachtet, heute. Hätte ich das gestern nicht tun sollen?«, ertönte seine Stimme so nah und laut, dass sie unangenehm in ihren Ohren klingelte.
»Was?«, war ihre erste Reaktion darauf und sie hob eine Augenbraue an. Sie wusste absolut nicht, wovon er sprach. Genauer gesagt hatte sie eigentlich keine Lust darauf, ihr Gedächtnis anzustrengen. Er war im Grunde nur ein Problem mehr, und das konnte sie gerade absolut nicht gebrauchen.
»Na, du weißt schon. Unsere Namen in die Eiche ritzen. Sie sind zwar nur klein, aber das ist vielleicht doch ein bisschen kitschig. Hab wahrscheinlich zu viel getrunken«, erwiderte er und wandte den Blick ab, woraufhin sie sich plötzlich wieder daran erinnerte. Sie waren gestern Nachmittag noch an der Schule und er hatte ihre Namen in der majestätischen Eiche verewigt. Und gestern fand sie es noch romantisch und war dahingeschmolzen, jetzt aber konnte sie nur daran denken, wie unangenehm das doch eigentlich war. Sicher würde Heath es in der Tat kitschig finden. Aber sie kannte das Mädchen doch eigentlich gar nicht, wieso stellte sie sich also unnötig Fragen darüber?
Möge Er doch die verdammte Eiche verbrennen, dachte sie, obwohl sie den majestätischen Baum doch vorhin noch so bewundert hatte. Ehrlich gesagt dachte sie nicht daran, ihm zu antworten, sie hatte absolut keine Lust auf ein Gespräch mit ihm. Auch wenn sie wusste, dass das nicht gerechtfertigt war, aber sie wusste es besser als sich einen guten Menschen zu nennen. Sie stützte das hübsche Kinn auf ihrer Hand ab und suchte mit dem Blick das Weite. Lange konnte sie sich von seiner Naivität aber nicht retten, denn es dauerte keine zwei Sekunden, bis er ihr Handgelenk nahm und sie über den Tisch zu sich heranzog, um sie sanft zu küssen. Sie waren so nah, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren konnte und seinen angenehmen Geruch in sich aufnahm. Er roch wirklich anziehend, aber es hatte irgendwie nicht mehr die selbe Wirkung auf sie, wie es vorher der Fall gewesen war. Ihre erste Reaktion wäre im Grunde gewesen, ihn von sich wegzustoßen und ihn zu fragen, was zur Hölle er sich erlaubte. Aber dann wurde ihr klar, dass es doch genau das war, was sie immer wollte, weswegen sie verharrte und sich keinen Zentimeter bewegte. Sicher fühlte es sich aber nicht danach an, als würde sie den Kuss erwidern. Und auch wenn sie sich so darauf konzentrierte, während des Kusses an ihn zu denken, hatte sie nur Heaths leuchtende Augen vor sich, die sie aus der Dunkelheit heraus kühl anstarrten. Warum das so war, konnte sie sich nicht erklären. Sie hoffte einfach, dass sie zusah, damit sie nachher ihre Reaktion beobachten konnte, wieso auch immer ihr das so wichtig war.
Sie konnte hören, wie die anderen Schüler alle klatschten und pfiffen. Ja, für sie wurde das auch höchste Zeit. Es war schon länger klar, dass die beiden irgendwann zusammen kommen würden, so wie sie sich innerhalb und auch außerhalb der Klasse und der Schule anschmachteten.
Jedoch musste sie gestehen, ihren ersten Kuss hatte sie sich anders vorgestellt. Irgendwie fühlte es sich nicht so schön an, wie sie es sich in ihren Träumen immer ausgemalt hatte. Dazu kam, dass sich Jays Küsse eindeutig zu ... feucht und schwammig anfühlten, jedoch hielt sie tapfer stand, auch wenn sie insgeheim hoffte, dass sie das nicht noch einmal tun musste.
Irgendwas in ihr zerbrach, das konnte sie eindeutig spüren. Sie hatte sich so lange gewünscht, dass genau das passieren würde, aber jetzt, wo sie endlich so weit gekommen war, hielt es nur Enttäuschungen für sie bereit. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, und Jay war der, den sie immer wollte. Warum fühlte es sich nicht gut an? Sie musste sich wirklich konzentrieren, ihn nicht sofort von sich zu stoßen und einfach wegzugehen um zu kotzen. Momentan war sie sehr nah am Wasser gebaut und konnte wirklich jeden Moment in Tränen ausbrechen. Oder kotzen. Kotzen war wahrscheinlicher. Das war definitiv nicht ihr Tag. Sie hätte zu Hause bleiben sollen.
Sie war auch diejenige, die sich von ihm als erstes löste und sich anschließend instinktiv über den Mund wischte. Sie versuchte, nicht in sein grinsendes Gesicht zu blicken. Stattdessen fiel ihr Blick auf Heath, die sie direkt fixierte, mit dem spitzen Kinn auf ihre Hand gestützt. Sie hatte es also tatsächlich gesehen. Jedoch konnte man keinerlei Regung in ihrem Gesicht erkennen. Erst als sie bemerkte, dass Emily sie ebenfalls ansah, hob sie eine Augenbraue minimal an und wandte den Blick ab, woraufhin sie in ihrem Heft herumzukritzeln begann. Danach schien sie das Ganze nicht mehr zu interessieren, aber Jay griff sowieso mit einer Hand sanft nach ihrer Wange, um ihr Gesicht in seine Richtung zu drehen, damit sie ihn ansehen musste.
»Wie fandest du's?«, fragte er und zog eine Augenbraue hochmütig an, was sie wirklich fast zum Kotzen brachte. Aber aufgrund von Anstand und Höflichkeit spuckte sie ihm nicht ihr Frühstück ins Gesicht.
Ihre Stimme war wie deaktiviert, sie konnte absolut nichts sagen, selbst wenn sie wollte. Ihr fiel auch nichts ein, was sie sagen konnte, woraufhin sie einfach den Kopf schüttelte, sich an ihm vorbeischlängelte, auf die Tür zusteuerte und Heaths Blick erneut im Rücken spürte.
Sie musste für einen Moment vollkommen alleine sein. Ihre Gedanken ordnen und nicht von irgendwem gestört werden. Sie brauchte für einen Moment vollkommene Ruhe, möglicherweise auch um ein paar Tränen zu vergießen, obwohl sie genau wusste, dass sie mal wieder viel zu dramatisch reagierte und man sie wahrscheinlich dafür auslachen würde. Ehrlich gesagt würde sie sich selbst auch dafür auslachen. Bah, first world problems.
Ⅲ
Der Tag hatte keine sonderlich gute Wendung angenommen. Emily verbrachte die Pausen hauptsächlich auf der Toilette, mit der Ausrede, dass sie wohl etwas schlechtes gegessen haben musste, einfach nur um Heaths stechendem Blick und dem schmierigen Gesicht von Jay entfliehen zu können, der natürlich vollkommen enttäuscht auf das alles reagierte. Ehrlich gesagt konnte sie ihn ja auch verstehen. Erst küsste sie ihn und dann schien sie vollkommen abweisend auf ihn zu reagieren. Sie würde wahrscheinlich genauso reagieren ... oder sogar noch etwas mehr Drama daraus machen. Nein, ganz sicher hätte sie ihn in Grund und Boden gestampft, hätte er ihr das angetan. Aber sie konnte ja nichts dafür, dass ihr schlecht wurde, wenn sie an den Kuss dachte, den sie ausgetauscht hatten. Er fühlte sich nicht richtig an, und deswegen konnte sie ihm nun auch nicht mehr in die Augen sehen, ohne sich schlecht zu fühlen. Ihr Vergangenheits-Ich hätte sie dafür sicher unbarmherzig mit spitzen Steinen beworfen, denn sie hätte an ihrer Stelle ganz anders reagiert. Tatsächlich war er doch der Junge ihrer Träume. Und nicht nur sie träumte von ihm, sondern auch Unmengen an anderer Mädchen, die jetzt natürlich ihre Chancen ergreifen konnten. Und was tat sie? Zitternd im Mädchenklo sitzen und sich keinen einzigen Zentimeter bewegen. Das Einzige, was sie wirklich wollte, war nach Hause gehen und dort auch bleiben. Hätte sie doch auf krank getan ... dann wäre das alles nun nicht passiert. Aber es half nichts, sosehr sie es sich auch wünschte. Mal ganz davon abgesehen, dass es auf der Kabine neben ihr widerlich nach Darmabgasen roch, sodass sie sich die Nase zuhalten musste.
Sobald die Schulglocke nach dem Unterricht zum dritten Mal klingelte, war sie eine der ersten, die ihre Sachen in Windeseile zusammenpackten, um so schnell wie möglich aus dem stickigen Klassenraum zu kommen. Sie hatte jedoch kein so großes Problem mehr damit, dass es heiß und stickig war, genauso wie es widerlich nach Schweiß stank. Viel größer war das Problem, welches sie haben würde, wenn Jay mit ihr reden wollte. Und das wollte er sicher, sie kannte ihn gut genug um das zu wissen. Daher beeilte sie sich ganz besonders damit, ihre Mathemappe in die Schultasche zu stopfen und hätte beinahe ihre Wasserflasche auf ihrem Tisch vergessen, wenn sie ihr nicht noch rechtzeitig ins Auge gefallen wäre.
Darüber, dass sie in Mathe mal wieder absolut kein Wort verstand, machte sie sich in dem Moment keine Sorgen. Eher setzte sich der Gedanke an den Jungen, der sie geküsst hatte, in ihrem Kopf fest und machte sich zu einem großen Problem. Das schlimmste dabei war, dass sie ganz genau wusste, wie sehr sie dabei übertrieb. Und dass andere das als Kleinkram wegstecken würden. Natürlich wusste sie genauso sehr, dass sie sich viel zu sehr in die Sache hineinsteigerte. Hätte sie so etwas wie einen Humor, dann würde sie sich sicher über den Gesichtsausdruck lustig machen, den er gehabt hatte, als sie den Klassenraum verließ, um sich nach dem Kuss die Seele auszukotzen.
Schwungvoll warf sie ihre blonden Haare nach hinten, damit sie ihr nicht mehr vor den Augen hängen konnten. Sie sah kurz nervös zur Seite und erkannte Jay, der gerade noch zusammenpackte und sich dabei alle Zeit der Welt ließ. Das war ihre Chance; ihre Chance so schnell wie nur möglich aus dem Klassenzimmer zu kommen und sich anschließend für Ewigkeiten in ihrem Zimmer einzuschließen.
Also raste sie genauso schnell, wie sie gekommen war, auch wieder aus dem Raum heraus und fragte sich derweil, wie sie die kommenden Tage überleben sollte. Wahrscheinlich erzählte sie ihrer Mutter tatsächlich, sie hätte eine Erkältung oder dergleichen.
Während sie sich ausmahlte, was genau sie ihrer Mutter und vor allem Lyra erzählte, wurden ihre Schritte instinktiv gemächlicher. Sie hatte das Schulgebäude mittlerweile verlassen und befand sich auf dem direkten Weg nach Hause. Sie entspannte sich beinahe schon wieder etwas, als sie eine Hand auf ihrem Oberarm spürte und zurückzuckte. Erschrocken blickte sie zur Seite und erkannte den Jungen, den sie am gestrigen Tage noch so sehr vergöttert hatte. Jetzt brachte ihr sein Gesicht nur Unheil.
»Was ist? Was hab ich gemacht?« fragte er und zog die Schultern ahnungslos an, während er sie erwartungsvoll anblickte. Natürlich ignorierte er seinen eigenen Heimweg, nur um ihr zu folgen. Konnte er sie nicht für einen Moment in Ruhe lassen? Nein, was dachte sie sich auch.
Während sie nach einer plausiblen Antwort suchte, die logisch war und Sinn machte, fühlte sie sich durch seinen Blick dezent unter Druck gesetzt.
»Das war schon sehr nah an etwas, was man sexuelle Belästigung nennt. Hast du vorher gefragt?« die Stimme kam definitiv nicht aus Emilys Mund, und sie würde auch niemals etwas in der Art sagen. Beide blickten schlagartig in die Richtung, aus der die plötzliche Stimme gekommen war. Heath schlenderte viel zu entspannt an ihnen vorbei und warf den zwei Personen einen bedeutungsvollen Blick zu. Ohne Vorwarnung schlang sie ihren Arm um Emilys Schultern und zog sie zu sich heran, was sie auch gleichzeitig von Jay wegzog. Sie war viel zu überrascht und überrumpelt, um irgendwas zu sagen und starrte Heath neben ihr nur entgeistert an.
»Wie viele Zeichen muss sie dir geben, damit du die Fliege machst? Sogar ich hab das verstanden, und ich bin ein Ignorant«, fuhr das dunkelhaarige Mädchen mit ihrem vorher begonnenen Satz fort und starrte Jay mit ihren giftigen Augen nieder. Emilys Blick fiel auf die blasse Hand des Mädchens, die nun über ihrer Schulter baumelte und spitze, schwarzlackierte Nägel besaß. Das machte sie noch mehr zu der Hexe, die sie doch bereits so deutlich verkörperte. Durch die großen Schritte, die sie machte, zog sie Emily mit, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte ... oder wollte. Jay hängten sie ab, denn er war noch lange nicht so groß wie Heath.
»Habt ihr euch jetzt gegen mich verschworen, oder was? Kennt ihr euch? Girlspower und so? Leck mich, Emily, leck mich. Mach doch was du willst.« erwiderte Jay in einem trotzigen Ton, der seine innere Wut widerspiegelte. Es war nicht zu übersehen, wie gekränkt er sein musste, aber auch wenn Emily kurze Zeit darüber nachdachte, ihm hinterherzugehen, sie tat es dennoch nicht. Zum einen Teil, weil sie absolut gar nichts verstand und zum anderen Teil weil sie zu faul war. Nein, natürlich kannte sie Heath nicht wirklich. Sie wusste auch nicht genau, ob sie ihr nun dankbar sein sollte, oder ob sie sie im Grunde nur auf den Arm nehmen wollte.
Sie blickte Jay knapp hinterher, widmete sich aber bald wieder Heath, dessen Arm sie von ihrer Schulter entfernte und sich um einige Schritte von ihr wegbewegte.
»Ein Danke wäre angebracht, aber verrenk dir bloß keinen Knochen dafür.« Heaths Stimme war tief und klang mindestens genauso genervt.
»Ein Danke? Wofür?« spuckte Emily mit karger Stimme aus und zog beide Augenbrauen zusammen. Eigentlich wollte sie noch einen schnippischen Kommentar hinterherwerfen, was das sollte und was sie sich überhaupt erlaubte, aber sie hatte plötzlich einen riesigen Kloß im Hals, der ihr die Stimme abschnürte. Was war nur los mit ihr?
»Dafür, dass ich dir deinen Allerwertesten gerettet habe, sonst hättest du ihm womöglich noch vor die Füße gekotzt, so wie du aussahst, und das wollen wir doch nicht«, mit einem Mal konnte man eine große Menge an Sarkasmus in der Stimme der Hexe erkennen. Mittlerweile hatte sich so etwas wie ein gesunder Respekt für Heath in Emily entwickelt, was sie davon abhielt, sie zur Schnecke zu machen. Ansonsten hätte sie jeden angemotzt, aber nun blieb sie still.
Eine ganze Weile lang schwiegen sich die beiden an, in der Emily nervös an ihrem Ärmel herumfummelte und Heath eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, die sie fast zur Weißglut brachte.
»Mach dir nichts vor, Prinzesschen, du stehst nicht auf ihn. Das hast du nie«, brach Heath mit einem Mal die Stille und schenkte ihr nicht einmal einen kurzen Blick. Im Großen und Ganzen wirkte sie desinteressiert.
»Was soll das denn heißen? Und woher willst du das überhaupt wissen?« fragte Emily daraufhin empört und redete sich selbst ein, dass sie natürlich Unrecht hatte und das auf keinen Fall stimmen konnte.
»Weil ich es gesehen habe. Er ist nicht dein kleines schmieriges Prinzchen. Du kannst von Glück reden, das ist ja beinahe so, als würde ich dir sagen, dass der Tumor in deinem Kopf gutartig ist.«
Ⅳ
Und was sollte sie nun tun? Ihn wegstoßen? Oder einfach annehmen, und genau das tun, was sie früher getan hätte?
»Wo die Liebe hinfällt, wächst kein Gras mehr«, hatte Heath gesagt, und Emily damit zum Denken angeregt. Sie war noch nie in einer Beziehung gewesen, und in dem Gedanken an die vielen Jungs, die ihr hinterherliefen, war ihr schon damals ein Schauer über den Rücken gelaufen. In den letzten Tagen, an denen sie sich nicht in die Schule getraut hatte, hatte ihr Gehirn auf Hochtouren gearbeitet, jedoch noch viel mehr Fragen hinterlassen. Sicher war nun; sie wollte Jay nicht, das hatte sie nie. Genau das, was Heath ihr erklärt hatte, und mit Schrecken musste sie feststellen, dass sie in so vielen Fällen recht besitzen sollte. Was die Sache nicht besser machte.
Nur kurz hatten sich die beiden unterhalten, auf dem Heimweg hatte sie das mysteriöse Mädchen auf einem abgelegenen Gut abgesetzt, welches wie das Miniformat einer alten Burg aussah. Der Vorgarten war genauso ungepflegt wie der Putz, der schon kläglich von der Wand blätterte und eine mausgraue Steinmauer zurücklies. Trotz des nur kurzen Gesprächs hatte Heath so vieles in ihrem Leben verändern können, was ihr nicht gerade zugute kam. Es war perfekt, bevor sie gekommen war. Und nun ließ sie Fragen zurück, wie eine Spur, die sie in einen dichten, knorrigen Wald hinein hinter sich her zog. Und Emily war drauf und dran, ihr auf diesem Weg zu folgen. Was sollte das denn für ein Märchen sein? Die Prinzessin, die sich von ihrem Prinzen abgewandt hatte und der Hexe freiwillig direkt in den Schlund folgte?
Leichtfüßig stand sie von ihrem Bett auf und zog sich schnell an. Für gewöhnlich hätte sie deutlich zu lange dafür gebraucht, aber in diesem Fall wollte sie sich beeilen. Also schmiss sie sich nur kurz etwas über und steckte einzig und allein ihren Schlüssel und ihr Handy ein. Ihrer Mutter erzählte sie, sie müsse nach den Krankheitstagen im Bett dringend frische Luft schnappen und sei bald wieder da. Zurück in der Wirklichkeit schwang sie sich aber auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zu dem abgelegenen Gut nahe des Waldrandes. Sie suchte Antworten, die ihr in ihrer Illusion nur Heath geben konnte.
Dort angekommen schmiss sie ihr Fahrrad achtlos in das verdorrte Gras und schob das rostige Gartentor auf. In dem Haus konnte sie keine Lichter in den Fenstern erkennen, obwohl es doch schon bald dämmerte. An der Tür fand sie keine Klingel, nur einen silbernen Türklopfer mit Löwenkopf. Den benutzte sie, und erschrak direkt, denn das Klopfen ertönte so laut, dass sogar Raben aufflogen, die auf den Dächern saßen. Oder die Umgebung war einfach zu still ...
Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufgerissen wurde, und Heath in einem schwarzen Mantel vor ihr stand. Blitzschnell griff sie begierig nach ihren Schultern, zog sie ins Innere und streckte den Kopf noch einmal nach draußen, um nach links und rechts zu schauen. Anschließend schloss sie die knarzende Tür mit einem lauten Knall und heftete die giftigen Smaragde auf Emily.
»Was suchst du hier?« fauchte sie und starrte ihr beinahe in die Seele.
»Ich möchte wissen, was du mit mir gemacht hast ...!« rief Emily, woraufhin Heath ihr eine Hand auf den Mund drückte und den Finger mit dem spitzen schwarzen Nagel der anderen auf ihre Lippen legte.
»Shh!« Heath griff grob nach ihrem Arm und zog sie am Handgelenk durch die Halle hin zu der großen steinernen Treppe. Es erinnerte Emily an eine Art viktorianisches großes Gemäuer, nur viel zu staubig und leer. Außerdem wirkte alles irgendwie ranzig, und sie hatte das Gefühl, Ratten zu hören, die über den Boden huschten. Wer konnte denn in so etwas leben?
Viel zu fest hielt Heath sie an ihrem Handgelenk und zog sie die Treppe hinauf direkt in ein Zimmer hinein, nicht ohne sich noch einmal umgesehen zu haben. Sobald sie beide drinnen waren, schloss sie die Tür und widmete sich ihr erneut.
»Ich hab gar nichts mit dir gemacht, das warst du selber. Ich war nur der Auslöser.« erklärte Heath leise.
»Das ändert nichts daran, dass du Schuld bist.« antwortete sie, woraufhin Heath schrill lachen musste. »Ach ja? Wenn du unbedingt einen Bösen in deiner Geschichte brauchst, bitteschön, hier ist er. Gib mir die Schuld, das stört mich nicht. War es das, was dich hierher gebracht hat? Darauf kann ich verzichten, also mach die Fliege.« dabei klang das dunkelhaarige Mädchen aufgebrachter als Emily es erwartet hätte.
»Nein, so ist das nicht.«
Heath fixierte sie mit ihrem lauernden Blick und schien jede ihrer Bewegungen zu beobachten. Anscheinend wartete sie auf eine Erklärung.
»Ich möchte ja nur wissen, warum ... warum auf einmal alles so anders ist.«
Heath atmete aus. »Alles? Hast du dich in deinem Leben bisher etwa nur auf Jungs fixiert oder was? Ich will dir eine Frage stellen ... wie kann es sein, dass du diese ganzen Fragen nicht Jay stellst, sondern stattdessen mir hinterherläufst? Ist er nicht dein Prinz? Oder bin ich es?« fragte sie spöttisch und fuhr sich durch die fettigen schwarzen Haare.
Emily starrte sie entgeistert an. Wie kam sie nur auf diese Idee? Sie ihr Prinz? Das Märchen wurde immer ulkiger, in dem die Hexe zum Prinzen wird.
Aber mit einem Mal stutzte sie. Heath hatte sie auf etwas gebracht, was sie vorher nicht realisierte. War das die Antwort, nach der sie gesucht hatte? Ist sie deswegen der Hexe in den Wald gefolgt?
»Bist du nicht eigentlich krank, oder so?« unterbrach Heath plötzlich ihre Gedankengänge und brachte sie in die Realität zurück. »Keine Ahnung, ich bin nicht gut darin, hab nie Besuch, aber willst du was trinken?«
Emily nickte auf die Frage hin, denn nun fiel ihr auf, wie ausgetrocknet sie sein musste, nachdem sie den Großteil des Tages im Bett gelegen hatte. Daraufhin manövrierte Heath sie auf ihr Bett, welches ein klappriges altes Gestell mit einer unbezogenen Matratze war. Darauf lag ein plattes schwarzes Kissen und eine dünne Decke. Wie befohlen setzte sie sich darauf, und ignorierte das Quietschen des rostigen Metalls gekonnt. Während Heath das Zimmer verließ um ihr etwas zu trinken zu holen, sah Emily sich das erste Mal genauer um. Es handelte sich bei dem Raum wohl nicht um das Zimmer eines gewöhnlichen Jugendlichen. Es war genauso leer wie der Rest des Hauses. Es gab nur ein Bücherregal mit traurigen sieben Büchern darin, einen Schreibtisch mit ein paar Unterlagen, einen Nachttisch und dieses Bett. Als Dekoration noch einen ausgefranzten staubigen Teppich und an der Wand abgeblätterte Poster und Bilder in hässlichen Bilderrahmen, die meist Naturphänomene zeigten. So etwas wie einen Tornado, oder einen Waldbrand.
Sie fragte sich, wie jemand so leben konnte ... und warum jemand so lebte. Besaßen sie kein Geld, oder machten sie das freiwillig? Nun, das Gut war schon groß, sicherlich sah es zu einer früheren Zeit auch mal sehr majestätisch aus, aber jetzt nicht mehr. Hatte Heaths Familie es geerbt?
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, kam besagte Person schon wieder leise durch die Tür geschlüpft und drückte ihr ein Glas mit einer Flüssigkeit in die Hand, die sie in der angebrochenen Dunkelheit nicht erkennen konnte.
»Was ist das?«
»Saft«, antwortete sie nur knapp. Mit einer raschen Handbewegung zündete Heath die Kerzen in dem dunklen und verranzten Zimmer an. Ihr Schein war nicht allzu hell, jedoch eindeutig genug, zumindest für Emily. Sie machte es sich auf der harten Matratze so gut es ging gemütlich und zog die Beine an. Ob es hier richtigen Strom gab, hatte sie Heath gar nicht gefragt. Aber sonst müssten die Bewohner ja auch Wasser aus dem Brunnen schöpfen, um sich zu waschen. Augenblicklich fiel der Blick ihrer braunen Puppenaugen auf den Brunnen, der außerhalb des steinernen Hauses lag. Ein Schauer überkam sie, vielleicht musste man ja tatsächlich kaltes Regenwasser benutzen. Für gewöhnlich hätte sie das verspottet, genauso wie Heaths Familie, aber es machte ihr nicht so viel Angst, wie sie erwartet hatte.
Heath drehte sich zu ihr um und starrte sie mit ihren grünen Katzenaugen an.
»Und was willst du jetzt tun?« fragte sie mit tonloser Stimme und setzte sich neben sie auf das metallene Bett, welches bei der Belastung sofort zu quietschen begann, als würde es im nächsten Moment zusammenbrechen.
»Weiß nicht«, erwiderte Emily und nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas, während sie ihren Kopf vorsichtig auf Heaths Schulter ablegte.
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